Willkommen beim Projekt „VielLeben“, in dem ich in unregelmäßigen Abständen, Portraits von Männern und Frauen jenseits der 50 vorstelle. Alle portraitierten Personen beantworten dieselben sieben Fragen und schicken mir drei Fotos von sich, eines aus der Kindheit, eines aus dem frühen Erwachsenenleben und eines von heute.
Heute freue ich mich über das dritte Portrait in dieser Serie.
Monika Krampl
Geboren 1950 in St. Pölten, nach 35 Jahren in Wien vor 2 Jahren nach St. Pölten zurückgekehrt.
Eine spontane Geschichte aus Ihrer Kindheit.
Das Gartenkind – Erinnerungsort I
Der Apfelbaum steht in der hintersten linken Ecke des Großmutter-Gartens. Wenn man vom Haus nach hinten in den Garten geht, kommt man erst durch den Gemüsegarten, dann über die Wiese mit dem Wäscheplatz und dem Viereck der Wäschestangen und ganz hinten steht der Apfelbaum.
Er ist nicht der einzige Apfelbaum im Garten. Aber er ist mir der Liebste. Linkerhand begrenzt eine Liguster-Hecke das Grundstück. Dahinter der verbotene Nachbars-Garten. Rechts neben dem Apfelbaum gibt es noch einen Baum mit Ringlotten, zwei Zwetschkenbäume und entlang der gegenüberliegenden Grundstücksgrenze stehen in einer schnurgeraden Reihe Ribisel- und Stachelbeersträucher.
Heute habe ich mir meine Puppe Lisa und mein Lieblingsmärchenbuch mit auf den Baum genommen. Ich gehe zwar noch nicht in die Schule, aber lesen kann ich schon.
Der Apfelbaum hat einen dicken, kurzen Stamm, so dass ich sehr leicht hinaufklettern kann und mir auch mein Kleidchen nicht schmutzig mache. Die Äste bilden eine große Gabel. Ich sitze mit meiner Puppe und meinem Buch fast so bequem wie in einem der hölzernen Liegestühle. Nur auf die Ameisenstraße muss ich aufpassen. Sie führt am Stamm und an einem der dicken Äste entlang.
Es ist Frühling und der Apfelbaum ist übersät mit weiß-rosa-roten dicken Blütendolden. Die Bienen und Hummeln summen im und um den Baum.
Aus der Liguster-Hecke kommt das aufgeregte Tschilpen von Spatzen. Sie haben dort, so wie jedes Jahr, ihr Nest gebaut. Der Wäscheplatz leuchtet gelb in der Sonne. Eine volle Löwenzahnkugel neben der anderen. Jede Kugel sitzt auf einem hohlen und doch kräftigen, fleischigen und kerzengeraden Stängel. Auch die Ribiselsträucher haben kleine hellgrüne Blättchen und die Rispen mit den vielen winzig kleinen grünen, harten Ribiselkügelchen sind schon erkennbar.
Die Nachbarskinder hinter der Liguster-Hecke toben laut durch den Garten. Es sind fünf Mädchen. Großmutter hat mir verboten mit ihnen zu sprechen oder zu spielen. Sie seien Zigeuner, sagt sie, und haben keine Manieren. Sie sind laut und schreien und streiten den lieben langen Tag. Sie sind immer schmutzig und gehen auch schon in den Monaten mit „r“ barfuss. Ich darf erst ab Mai, dem ersten Monat ohne „r“, barfuss gehen. Und schmutzig mache ich mich auch nicht. Wenn ich mich vorbeuge in meiner Astgabel, sehe ich die blaue Kittelschürze meiner Großmutter im Gemüsegarten aufblitzen. Sie stützt sich auf die mit feuchter, fetter, dunkler Erde belegte Stichschaufel und ich sehe, dass sie sich auch vorgebeugt hat und versucht, zu mir herzusehen. Ich zucke zurück und schaue in mein Buch.
Es ist Winter und man kann daher vom Haus aus bis ganz nach hinten zum Apfelbaum sehen. Eine dicke Schneedecke liegt über dem Gemüsegarten, etwas unregelmäßig, da die Erde darunter umgegraben wurde. Auf der Wiese des Wäscheplatzes ist der Schnee eben und glitzert in abertausenden von Kristallen in der Sonne in einem strahlenden Weiß.
Der Apfelbaum hat hohe Schneehauben auf seinen dicken Ästen und die Zweige sind mit Eiskristallen überzogen. Stille liegt über dem Garten.
Ich habe feste Stiefel an. Meine dicke Hose und den Mantel hat meine Großmutter genäht. Den Schal, die Fäustlinge und die Haube hat sie gestrickt. Meine Hand liegt fest und warm in ihrer. (Text: Copyright Monika Krampl)
Wenn Sie an Ihre Jugendzeit denken, mit welchen 5 Begriffen würden Sie diese skizzieren?
Die Freiheit und Sicherheit des Kindes ist verschwunden. Von nun an ist sie fremdbestimmt. Weit entfernt von jeder Rebellion. Klein gemacht, das Selbstwertgefühl der Kindheit ausgetrieben mit Verboten, Geboten, starren Grenzen. Jede jugendliche Regung und Lebendigkeit, jeder Wunsch nach Freiheit und Sich-Ausprobieren wird als falsch verurteilt. „Du brauchst nicht glauben, dass du g’scheiter bist als ich“ und „Das letzte Wort habe ich“…
Ein Ersticken in Wortlosigkeit beginnt …
Gibt es ein Musikstück, dass Ihnen zu Ihrer Kindheit und Jugendzeit einfällt?
Mein ganzes Leben lang begleitet mich immer wieder (manchmal sehr intensiv) Konstantin Wecker. Hier eine Live-Aufnahme aus dem Jahr 1977, da war ich 27 (!), entspricht meiner damaligen LebensStimmung.
Stellen Sie sich ihr Leben als Reise vor. Was waren die wichtigsten Stationen auf Ihrer bisherigen Reise?
Deren gab es viele! Helle und dunkle Stationen – und beide waren wichtig. Nach einer Flucht mit 18 Jahren in eine Ehe, die sich als Fortsetzung der Einschränkungen und Begrenztheit herausstellte, eine Rebellion mit 25 – aber immerhin! Im Schnellraffer das Sich-Ausprobieren und grenzenlos zu leben nachholen. Das Erleben der Geburt meines Sohnes mit 18 Jahren, und das Erleben der Fehlgeburt meiner Zwillinge mit 38 Jahren. Eine Karriere in meiner ersten (vorbestimmten) Berufslaufbahn. Eine sehr wichtige Station meine Psychotherapie – nach der Pendelbewegung von der Seite der engen Grenzen zur Seite der Grenzenlosigkeit, auszugraben und zu entdecken wer ICH wirklich bin. Beginn der Ausbildung des von mir selbst gewählten Berufes zur Psychotherapeutin. Ich eröffne meine eigene Praxis. Viele Reisen – u.a. in mein Seelenland Indien und Sri Lanka. Aufenthalte in einem buddhistischen Kloster. Entdecken meiner Wort- und Schreiblust und Veröffentlichungen. Ach, da gäbe es noch so viele Stationen, die als Schätze in meiner Schatzkiste gelagert sind, und die viel Zeit und viele Zeilen brauchen würden, um erzählt zu werden …
Wenn Sie so Ihr Leben betrachten: Was trägt Sie im Leben? Was macht sie aus?
In meinem Innersten trägt mich mein Glaube an mich selbst. Die Erfahrung meines Mutes, meiner Kraft und meiner Neugier durchs Leben zu gehen, und meine Liebe. Die Erfahrungen, dass sich mit Veränderungen immer neue Türen und damit neue Lebenschancen öffnen. Das In-die-Stille-gehen mit Meditation – ein Teil des Allumfassenden werden – die eigene Begrenztheit und das Ego sich auflösen lassen …
Im Außen tragen mich meine wunderbaren und liebevollen Beziehungen.
Welche Erkenntnisse von heute hätten sie gerne schon früher gehabt. Was wäre dann vielleicht anders gewesen, anders gelaufen?
Ich hätte gerne bereits früher die Erkenntnis gehabt, dass ich mit der gelebten Radikalität meiner Lebensumbrüche und Veränderungen Menschen in meinem Umfeld, vor allem meinen Sohn, verletze. Bei meinem Sohn habe ich mich schuldig gemacht und mich dieser Schuld auch gestellt, sein Erleben und seine Verletzungen angenommen. Das daraus gewachsene Vertrauen ist zum Nährboden geworden, zum Beginn einer von Liebe und Respekt getragenen erwachsenen Mutter-Sohn-Beziehung. Ansonsten – wäre ich nicht die, die ich heute bin, wenn etwas anders gelaufen wäre …
Wenn Sie mit Ihrer Erfahrung heute Ihrem 20 jährigen ICH von damals, etwas vom Leben erzählen könnten, was würden Sie ihm mitteilen?
Sei mutig, du bist in Ordnung so wie du bist, trau dir etwas zu und liebe dich selbst. Nur durch deine Selbstliebe wirst du bedingungslos lieben können und die Zugehörigkeit und Verbundenheit mit allen und allem um dich spüren.
„Ground of being, and granite of it: past all/ Grasp, God“ (Gerard Manley Hopkins)
“Urgrund des Seins, und sein Urgestein: Jenseits von allem/ Begreifen, Gott“
Wo auf Ihrer Lebensreise befinden Sie sich gerade und wie geht die Reise weiter? Welche Pläne haben Sie? Was wollen Sie noch erleben/ tun/ erledigen?
Nach einer längeren Zeit des sehr bewussten Alleinlebens möchte ich wieder lustvolle, liebevolle und respektvolle Beziehungen leben. Vor einem Jahr habe ich meine Praxis geschlossen. Seit vier Monaten bin ich Politikerin bei den Grünen und habe in den nächsten vier Jahren einiges vor. Ich möchte mithelfen mein Umfeld, diese Stadt, so zu gestalten, dass sie menschenfreundlich lebenswert wird. Vor allem aber möchte ich dazu beitragen, das System (Partei)politik zu verändern. Mit anderen Strukturen, einer anderen Kommunikation und einer Zusammenarbeit zwischen Politik und Zivilgesellschaft. Politisches Handeln nicht zum Machterhalt, sondern für das Gemeinwohl, macht viel Freude!
Ich möchte mein Ausgedinge-Häuschen im Garten meines Sohnes bauen, ein Buch schreiben, wieder auf Reisen gehen und weiter neugierig auf das Leben sein …
FreudewacheAugenfrohesHerzWortefügensichaneinanderundtragenmeinSeinindieWeltmeine- Seelejubelt …
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