Meine aufmerksamen LeserInnen haben mitbekommen, dass es in meinem Leben seit einiger Zeit hochhergeht. Verliebt in einen jüngeren Mann Anfang des Jahres, wurden mein Mann und ich ordentlich durchgebeutelt und unsere Beziehung auf den Kopf gestellt. Immer noch sind wir am Reden, Klären, Neudefinieren, es geht um unser Miteinander im Leben, um Vorstellungen von der Zukunft und auch um unsere Sexualität. All das ist emotional anstrengend und erfüllend gleichzeitig.
Eine Buchempfehlung, die zuerst liegen blieb…
Schon am Beginn meiner Krise hat mir eine Freundin jenes Buch empfohlen, welches ich heute vorstellen möchte: Reifestufen der sexuellen Liebe von Notburga Fischer. Ich habe es damals im Februar zuerst achtlos zur Seite gelegt, trotzdem aber nie wirklich aus den Augen verloren. Immer wieder bin ich daran vorbeigegangen, hab es in die Hand genommen und einen kleinen Blick hineingeworfen, dann aber wieder weggelegt. Es klang mir zu trocken für die schönste Sache der Welt, beim Hineinlesen auch zu fachlich, zu schwer. Mein Leben war grad anstrengend genug!
…. und dann zur Urlaubslektüre wurde
Aber manchmal ist halt einfach die Zeit nicht reif oder auch die Not noch nicht groß genug, um ein Buch wie dieses dann doch anzugehen. Im Juli, zu meinem Urlaubsauftakt, war ich dann soweit. Die Emotionen gingen wieder einmal hoch, die Hilflosigkeit war groß. Also griff ich zu den Reifestufen der sexuellen Liebe und siehe da, ich versank darin. Es ist eindeutig das Beste und Komplexeste, was ich je über Sexualität gelesen habe!
Zum Inhalt des Buches
Habt Ihr schon einmal von den Entwicklungsstufen des Menschen gehört? Das sind Konzepte, die davon ausgehen, dass jeder Mensch quer durch sein Leben Entwicklungsstufen durchläuft und in jeder Stufe bestimmte Entwicklungsaufgaben bewältigen muss. Bewältigt der Mensch diese Aufgaben positiv, reift er und entwickelt sich psychosozial weiter. Bewältigt er seine Entwicklungsaufgaben nicht oder nur unzureichend, hat das Folgen aufs Leben, es kann zu Störungen im Leben kommen, zu psychischen Problemen, ja sogar zu Krankheiten.
Die Sexualtherapeutin Notburga Fischer hat dieses Konzept der Entwicklungsstufen auf das Thema Sexualität angewendet. Sie beschreibt 8 Reifestufen der sexuellen Liebe und hat jede Stufe einem Alter zugeordnet. So beginnt sie etwa mit der „Reifestufe 4 Jahre – Jungen sind anders- Mädchen auch“, wo sie erzählt warum Buben etwa ihren Penis stolz präsentieren, wie Mütter ihren Töchtern die Vulva und Vagina näher bringen könnten und dass Doktorspiele nur von den Erwachsenen sexualisiert werden, und endet bei „Reifestufe 74plus- Essenz und Würde“, wo sie schreibt, dass sich die Polarität der Geschlechter im Alter angleicht, das das Menschsein in den Vordergrund tritt und Sexualität vor allem Verbindung mit offenem Herzen bedeutet. Zwischen diesen beiden genannten Stufen werden, im Rahmen weiterer Reifestufen, alle Themen von Sexualität behandelt, von der Pubertät über die Sexualität des jungen Erwachsenen und die Phase des Kinderbekommens und der Elternschaft bis zu den Wecheljahren.
Doch eigentlich beginnt Notburga Fischer ihre Ausführungen zu den Reifestufen der sexuellen Liebe bereits weit vor der Geburt und macht damit Zusammenhänge sichtbar, an die man selbst bei Sexualität nicht so schnell denkt. Etwa, dass wir alle ein sexuelles Erbe in uns tragen, unsere Herkunft, die Art wie Großeltern und Eltern ihre Beziehung und ihre Sexualität gelebt und vermittelt haben, wie sie Sexualität betrachtet haben, was tabuisiert wurde, eine Vergewaltigung etwa oder Gewalt in der Ehe. Notburga Fischer spricht in diesem Zusammenhang von der Gefahr unbewusster Wiederholungen quer durch die Ahnenreihe. Auch die eigene Zeugung und die Zeit im Mutterleib kann Sexualität prägen, so spürt der Embryo etwa, ob er willkommen ist oder nicht und auch dies kann Auswirkungen auf zukünftige Sexualität haben. Fischer lässt die Leserin hier sogar an Überlegungen teilhaben, die sich mit den möglichen Folgen künstlicher Befruchtung beschäftigen, mit dem Einfrieren von Eizellen etwa, und weist darauf hin, dass es ein „zelluläres Erinnern an ein vorgeburtliches Da-Sein“ gibt. Hier erzählt sie etwa von einer Frau, die in der Therapiesitzung, wann immer es um ihre Zeugung ging, Eiseskälte spürte. Erst durch Nachfragen bei den Eltern erfuhr sie, dass ihre Eltern Embryonen einfrieren ließen und sie aus einem solchen Embryo entstanden war.
Notburga Fischer macht in ihrem Buch Reifestufen der sexuellen Liebe deutlich, dass die natürlichste und angeblich schönste Sache der Welt eine hoch komplexe Angelegenheit ist. Sie macht aber auch Mut, bei Problemen nicht die Flinte ins Korn zu werfen und diese nicht nur auf die körperliche Ebene oder auf das Funktionieren der Geschlechtsorgane zu reduzieren, sondern bewusst hinzusehen, auf Prägungen etwa, auf Ängste, auf Unsicherheiten, und sich eventuell dabei auch Hilfe zu holen, etwa bei Sexualtherapeuten.
Zur Autorin
Notburga Fischer ist Paar- und Sexualtherapeutin und Coach in eigener Praxis in der Schweiz. Seit vielen Jahren hält sie auf internationaler Ebene Beziehungs-Seminare, zusammen mit ihrem Mann leitet sie „Mann-Frau-Trainings“. Mehr zur Autorin und ihren Angeboten finden Sie HIER.
Das Buch und ich
Für mich kam das Buch zum richtigen Zeitpunkt. Es hat mich stellenweise sehr berührt und ich hatte einige Aha-Effekte, die mich richtig weitergebracht haben in meiner derzeitigen Situation. Mir die eigene Zeugung als Liebesakt meiner Eltern vorzustellen, habe ich zwei Mal versucht und bin gescheitert. Eine interessante Erfahrung! Da bleibe ich auf alle Fälle dran. Persönlich sehr beschäftigt und zu Tränen berührt hat mich auch eine Fallschilderung über einen Klienten, der als Kind unerwünscht war und sich seine gesamte Kindheit verantwortlich fühlte, für das Glück der Mutter. Diese Geschichte inspirierte mich einige Tage später zu einer erkenntnisreichen Übung.
Für mich besonders interessant waren außerdem die Ausführungen zur Triangulierung, also zu der Situation, wenn etwas störendes Drittes dazwischenkommt. Da habe ich mich ertappt gefühlt, mich gefunden und die Frage, ob es dabei darum geht Nähe und Intimität zu vermeiden, beschäftigt mich noch heute. Befreiend fand ich die Aussage, dass immer wieder „ein erstes Mal“ möglich ist, also dass Dinge, die nicht so gut gelaufen sind beim ersten Mal, jederzeit nachgeholt werden können.
Erschüttert hat mich, auch wenn ich als Frau ohne Kinder da nicht betroffen bin, wie sehr die Diskussion um sexuellen Missbrauch bei Kindern (so wichtig dieses Hinsehen ist, bitte mich da nicht falsch verstehen!), unseren Umgang mit Kindern negativ beeinflusst und damit die Sexualität der nächsten Generation. Fischer berichtet etwa von völligen elterlichen Überreaktionen bei Doktorspielen von Kindern, von Vätern, die es nicht mehr wagen mit den kleinen Töchtern in die Badewanne zu steigen, von Müttern, die bei der Babymassage den Genitalbereich aussparen, weil sie das Kind nicht missbrauchen wollen und von männlichen Kindergärtnern, die automatisch bei vielen Eltern im Generalverdacht stehen, potentielle Pädophile zu sein. Gesellschaftlich arg krank, würde ich sagen und für die sexuelle Entwicklung unserer Kinder sicher nicht förderlich.
Zum Abschluss ein kleiner Kritikpunkt: Ich glaube, um dieses Buch zu mögen und zu verstehen, muss man schon einige Erfahrung mit Psychotherapie oder Lebensberatung mitbringen, worüber ich zum Glück verfüge. Vor allem aber muss man eine offene Haltung zu etwa esoterischer Sprache beweisen, denn Notburga Fischer verwendet sehr oft das Wort „Energie“ und „Qualitäten“ und „stimmig sein“, das ist durchaus gewöhnungsbedürftig und nicht jedermanns/ jederfraus Sache. Als ich meinem Mann einige Absätze des Buches vorlas, meinte der nur: Bitte nicht, das halte ich nicht aus! Zu esoterisch!“
Mir aber liegt diese Sprache, ich kann mit all diesen Begriffen viel anfangen, deshalb standen sie mir beim Lesen dieses wunderbaren Buches auch nicht im Wege. Für mich gehört dieses Buch von Notburga Fischer zum Besten, was ich je über Sexualität gelesen habe. Erhellend, die Reflektion des eigenen Lebens und der eigenen Sexualität anregend, spannend, erkenntnisreich.
Reifestufen der sexuellen Liebe
Wie Herkunft prägt und intime Beziehungen (dennoch) gelingen
Notburga Fischer
innenwelt verlag
273 Seiten
Prädikat: Anspruchsvoll zu lesen, aber sehr wertvoll.
Dieser Artikel ist keine Werbung. Ich habe weder das Buchexemplar vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, noch wurde ich für die Verfassung der Rezension in irgendeiner Weise honoriert.
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